Die Mutter aller Kräuter

An heißen Sommertagen blüht am Wegesrand die „Mutter aller Kräuter“. Diesen Namen trug sie bereits im Macer Floridus, einem Lehrgedicht über Kräuter aus dem 11. Jahrhundert. Die Rede ist vom Beifuß, der mit seinem botanischen Namen Artemisia vulgaris an Artemis erinnert, die griechische Göttin der Jagd und Schutzherrin der Heilkräuterkundigen. Artemis war auch die Schutzheilige der Frauen und schon früh wurde Beifuß als „Weiberkraut“ in der Frauenheilkunde verwendet. Die Römer hingegen polsterten ihr Schuhwerk mit den Blättern der Pflanze aus, um so auf ihren Wegen nicht zu ermüden, wie schon Plinius berichtet.  Ob wohl der Name „Beifuß“ auf diese erhoffte Wirkung des Krautes anspielt?

Seine zahlreichen Volksnamen erinnern an die verschiedenen Bereiche, in denen der Beifuß schon seit Menschengedenken Anwendung findet. Bei den Germanen zählte Beifuß zu den wirkmächtigsten Pflanzen, weshalb sie ihm den Beinamen Mugwurz (= Machtwurz) gaben. Ihr Donnergott gürtete sich mit einem Gürtel aus Beifuß, um so seine Macht noch zusätzlich zu vermehren. „Sonnenwendgürtel“ hieß er bei unseren Ahnen, die am Sonnenwendfest einen Gürtel aus Beifußpflanzen um sich schlangen, bei ihren rituellen Tänzen durch das Feuer sprangen und den Gürtel anschließend symbolisch verbrannten. Durch dieses Ritual hofften sie, sich im nächsten Jahr aller Krankheiten erwehren zu können. Aus der Zeit der Germanen stammt übrigens der Brauch, insbesondere in den zwölf Raunächten rund um den Jahreswechsel, eine Kräutermischung zu verbrennen, um im neuen Jahr alles Unheil von Häusern und Stallungen abzuhalten – eines der hierfür genutzten Kräuter war der Beifuß.

Im Mittelalter bediente man sich des „Besenkrauts“, um damit Hexen abzuwehren, doch es diente gleichzeitig gerade bei „Hexen“ und anderen Kräuterkundigen als Bestandteil allerhand magischer Tränke und Rezepturen. Als Strauß am Dachfirst befestigt, sollte das „Donnerkraut“ das Haus angeblich vor Gewittern, Blitzeinschlag und Seuchen beschützen. Zudem zählte der Beifuß zu den traditionellen „Grutbier“-Kräutern, die von Braumeistern zum Würzen des Biers eingesetzt wurden. Parfü-meure gewinnen durch Destillation mit Wasserdampf aus getrocknetem Pflanzenmaterial ein Parfümöl namens „Essence d’Armoise“. Und bei der Zubereitung der klassischen Weihnachtsgans wird gern ein wenig „Gänsekraut“ verwendet, weil dessen Inhaltsstoffe die schwere Kost leichter verdaulich machen, indem es die Bildung von Magensaft und Gallenflüssigkeit anregen. Schon die heilkundige Non­ne Hildegard von Bingen schwor auf genau diese Wirkung des Beifuß. Wer also für den sorgenfreien Genuss des Gänsebratens in der Winterzeit vorsorgen will, erntet zwischen Juli und September die Triebspitzen mit den Blüten, bevor diese sich geöffnet haben und trocknet sie zum späteren Gebrauch in der Winterzeit.

„… Du hast Macht für 3 und gegen 30,
du hast Macht gegen Gift und gegen fliegendes Gift,
du hast Macht gegen das Übel, das über Land fährt.“

Versauszug über den Beifuß aus dem englischen „Neunkräutersegen“ (9./10.Jh.)