Feenzauber zwischen Himmel und Erde

In England ist es ein lieb gewordener Brauch, dass sich junge Paare unter Mistelzweigen küssen, die über der Tür angebracht wurden. Und entsprechend nennen die Briten die weißen Mistelfrüchte auch „Kusskugeln“. Manchenorts wurde der betreffende Mistelzweig sogar zwölf Nächte nach Weihnachten verbrannt, damit der Heiratwunsch der Geküssten wahr werden konnte. Dieser Brauch soll daher stammen, dass sich die Kelten mit ihren Feinden unter dem Zeichen der Mistel mit einem Friedenskuss versöhnten, denn die Pflanze galt bei ihnen als Zeichen des Friedens. In Bayern wird die Mistel traditionell über den Türstock gehängt, um Haus und Hof so vor Feuer und bösen Geistern und Feen zu bewahren. Zu allen Zeiten erschien die immergrüne Mistel unseren Vorfahren als höchst geheimnisvoll, da sie so hoch oben in den Bäumen wuchs. Und wer so weit oben wächst, muss ja magische Kräfte haben! Man erzählt sich, dass die „Goldene Zauberrute“, mit deren Hilfe der griechische Held Äneas in die Unterwelt eindrang, ein Mistelzweig gewesen sei. Bei den Druiden hingegen herrschte der Glaube, die Götter selbst hätten die Mistel oben auf die Wipfel der Bäume – zwischen Himmel und Erde – gesetzt. Mit diesem Zeichen teilten die Himmlischen den Menschen mit, dass sie selbst in diesem Baum anwesend seien. Daher schnitten die Druiden die Mistelzweige ausschließlich mit einer goldenen Sichel ab, wobei das geschnittene Reis mit einem weißen Tuch aufgefangen werden musste. Die so geschnittenen Zweige verwendeten sie unter anderem zur Herstellung wundertätiger Tränke (Asterix lässt grüßen!). Die Mistel wurde auch als Glück angesehen und mit ihrer gegabelten Zweigform entwickelten sich die Mistelzweige auch zum Vorbild für Wünschelruten. Doch Achtung: Nur Zweige, die man zum Geschenk erhält, sollen Glück bringen! In der christlichen Legendenbildung heißt es, dass das Kreuz, an dem Jesus getötet wurde, aus dem Mistelbaum angefertigt worden sei. Aus Gram und Schande sei der Baum dann eingetrocknet, um sich in eine Pflanze zu verwandeln, die allen Gutes bringt, die unter ihr hindurchgehen. Im Mittelalter wurde die Mistel auch als Heilpflanze genutzt. So soll etwa Hildegard von Bingen auf Mistelsud als Hilfsmittel gegen erfrorene Gliedmassen geschworen haben! Da die weißen Beerenfrüchte der Mistel erst im Dezember reif werden, haben sie sich als beliebtes Beiwerk von adventlichen Blumendekorationen bewährt. Doch bevor eine Mistel zu blühen beginnt, muss die Pflanze mindestens fünf Jahre alt sein. Sie zählt zu den sehr langsam wachsenden Gehölzen, so dass eine Mistelkugel mit einem halben Meter Durchmesser bereits stattliche 30 Jahre alt ist! Der Botaniker kennt drei Unterarten von Misteln, die verschiedene Bäume als Wuchsunterlage bevorzugen. Dabei ist es nur Viscum album, die Laubholzmistel, die die rein weißen Beeren und weiße Samen hervorbringt. Ihren botanischen Namen hat die Mistel übrigens vom lateinischen Wort viscum, was soviel wie „Klebstoff“ oder „Leim“ bedeutet. In den Mistelbeeren befindet sich nämlich ein klebriger Schleim, der am Schnabel der Vögel, die sie fressen, haften bleibt. Wenn sich die Piepmätze nach der Beerenmahlzeit dann den Schnabel wetzen, um sich von der klebrigen Masse zu befreien, bleibt der Same gleich oben im nächsten Wirtsbaum kleben – eine neue Mistel kann entstehen. Und so verwundert es auch nicht, dass aus dieser klebrigen Hinterlassenschaft die Redensart „jemanden auf den Leim gehen“ entstanden ist!

Zeichnung einer Mistel von C.A.M. Lindmann (1856-1928) (Bildquelle: Wikimedia)