… und gibt ihr alle Neumond ein neues weißes Hemdlein“

alraune-hieronymus-brunschwig-kleines-destillierbuch-strassburg-1500-kleinDie Alraune oder Mandragora gehört zu den sagen­um­wobensten Vertretern des Pflanzenreichs. Schon im Altertum war sie im Mittelmeerraum als Heil­pflan­ze bekannt. In unsere Breiten kam sie aber erst im Mittelalter und gelangte hier als Zauberpflanze zu Berühmtheit. Die hoch giftigen Inhaltsstoffe des Nachtschattengewächses, das nahe mit der Toll­kirsche und dem Bilsenkraut verwandt ist, trugen dazu bei, den magischen Ruf der Alraune zu fördern. Ihre zwei botanischen Arten, die Früh­lings-Alraune (Mandragora officinarum) sowie die Herbst-Alraune (Mandragora autumnalis), hielt man damals für Alraunen-„Männchen“ und Alraunen-„Weibchen“. Diese Bezeichnung rührt von ihrer sonderbar geformten Wurzel her, die man – mit etwas Phantasie – für kleine mensch­liche Figuren halten könnte.

alraunenernte-aus-dem-kodex-tacuinum-sanitatis-in-medicina-cod-vindob-ser-nov-2644-ca-1390-kleinDieses Aussehen gab natürlich zu allerlei magi­schen Spekulationen Anlass. So war etwa der Glaube weit verbreitet, dass die Alraune beim Herausziehen ihrer Wurzel einen Schrei von sich geben würde, durch den Menschen sofort sterben müssten. Um dies zu ver­hin­dern, band man bei der Ernte der Pflanze einen Hund mit einem Seil an ihrer Wurzel fest. Die Person, die die Alraune ernten wollte, verstopfte sich die Ohren mit Wachs und rief anschließend den Hund zu sich, der so die Wurzel aus der Erde zog. Der Schrei, der dabei angeblich ertönte, tötete so den Hund anstelle des Menschen.

Doch warum begaben sich die Menschen des Mittelalters in eine so große (vermeint­liche) Gefahr, um der Pflanze hab­haft zu werden? In dieser Zeit war man der festen Überzeugung, dass der Pflanze übernatürliche Kräfte innewohnten: Alraunen, die unter Galgen wuchsen, galten zum Beispiel als besonders zauberkräftig. Die so wertvolle Pflanze wurde auch entspre­chend behandelt: Man „wickelt sie in ein weiß und rotes Seiden­zeug, legt sie in ein Kästlein, badet sie alle Freitag und gibt ihr alle Neumond ein neues weißes Hemdlein“, ist in Jacob Grimms  „Deutscher Mythologie“ zu lesen. Schon in den frühen natur­wissenschaftlichen Schriften berichten die Gelehrten, dass die Alraune für die Herstellung von Narkotika und Schlafmitteln verwen­det wurde. Dieben, denen man als Strafe für ihre Missetat die Hand abhacken wollte, gab man zuvor einen Sud aus der Pflanze zu trinken, um ihnen den Schmerz leichter erträglich zu machen. Und noch heute ziert die Mandragora das Wappen der englischen Gesellschaft der Anästhe­sisten!

Doch vor allem zählte sie als Bestandteil von Liebestränken, Hexenflugsalben und als Talis­man zu den wichtigsten Zutaten der “Hexenküche“. Der Grund hierfür lag an den Inhalts­stof­fen, die heftigste Sinnestäuschungen auslösen. Wenn man Bestandteile der Pflanze zu sich nahm, stellte sich etwa die Halluzination ein, sich in ein Tier verwandeln, mit Gei­stern sprechen oder gar fliegen zu können. Außerdem hieß es, die Alraune könne die Liebe und die Fruchtbarkeit fördern, ja man glaubte sogar, ein Sud aus Alraune könne einen Menschen in die Lage versetzten, sein Geschlecht zu wechseln! Außerdem sollte die sonderbare Wurzel Glück bringen und vor Schaden schützen. Und so gab mancher Mensch ein wahres Vermögen dafür aus, um in den Besitz eines Alraunenmännleins oder – weibleins zu gelangen. Daher verwundert es nicht, dass mit Alraunen ein reger Handel getrieben wurde und bald auch jede Menge gefälschte Wurzeln in Umlauf gelangten. Noch heute kann man in Wien zwei in Samtkleider gehüllte unechte Alraunen bestaunen, die Kaiser Rudolf II. in sei­nem Besitz hatte. Selbst zu Goethes Zeiten war der Glaube an die Macht der Alraune noch nicht ganz erloschen und so gehörte auch dem Dichterfürst eine „Alraune oder Glückswurzel, in den Saum des Unterrocks zu nähen, als Mittel für alles Ungemach“!