Die Alraune oder Mandragora gehört zu den sagenumwobensten Vertretern des Pflanzenreichs. Schon im Altertum war sie im Mittelmeerraum als Heilpflanze bekannt. In unsere Breiten kam sie aber erst im Mittelalter und gelangte hier als Zauberpflanze zu Berühmtheit. Die hoch giftigen Inhaltsstoffe des Nachtschattengewächses, das nahe mit der Tollkirsche und dem Bilsenkraut verwandt ist, trugen dazu bei, den magischen Ruf der Alraune zu fördern. Ihre zwei botanischen Arten, die Frühlings-Alraune (Mandragora officinarum) sowie die Herbst-Alraune (Mandragora autumnalis), hielt man damals für Alraunen-„Männchen“ und Alraunen-„Weibchen“. Diese Bezeichnung rührt von ihrer sonderbar geformten Wurzel her, die man – mit etwas Phantasie – für kleine menschliche Figuren halten könnte.
Dieses Aussehen gab natürlich zu allerlei magischen Spekulationen Anlass. So war etwa der Glaube weit verbreitet, dass die Alraune beim Herausziehen ihrer Wurzel einen Schrei von sich geben würde, durch den Menschen sofort sterben müssten. Um dies zu verhindern, band man bei der Ernte der Pflanze einen Hund mit einem Seil an ihrer Wurzel fest. Die Person, die die Alraune ernten wollte, verstopfte sich die Ohren mit Wachs und rief anschließend den Hund zu sich, der so die Wurzel aus der Erde zog. Der Schrei, der dabei angeblich ertönte, tötete so den Hund anstelle des Menschen.
Doch warum begaben sich die Menschen des Mittelalters in eine so große (vermeintliche) Gefahr, um der Pflanze habhaft zu werden? In dieser Zeit war man der festen Überzeugung, dass der Pflanze übernatürliche Kräfte innewohnten: Alraunen, die unter Galgen wuchsen, galten zum Beispiel als besonders zauberkräftig. Die so wertvolle Pflanze wurde auch entsprechend behandelt: Man „wickelt sie in ein weiß und rotes Seidenzeug, legt sie in ein Kästlein, badet sie alle Freitag und gibt ihr alle Neumond ein neues weißes Hemdlein“, ist in Jacob Grimms „Deutscher Mythologie“ zu lesen. Schon in den frühen naturwissenschaftlichen Schriften berichten die Gelehrten, dass die Alraune für die Herstellung von Narkotika und Schlafmitteln verwendet wurde. Dieben, denen man als Strafe für ihre Missetat die Hand abhacken wollte, gab man zuvor einen Sud aus der Pflanze zu trinken, um ihnen den Schmerz leichter erträglich zu machen. Und noch heute ziert die Mandragora das Wappen der englischen Gesellschaft der Anästhesisten!
Doch vor allem zählte sie als Bestandteil von Liebestränken, Hexenflugsalben und als Talisman zu den wichtigsten Zutaten der “Hexenküche“. Der Grund hierfür lag an den Inhaltsstoffen, die heftigste Sinnestäuschungen auslösen. Wenn man Bestandteile der Pflanze zu sich nahm, stellte sich etwa die Halluzination ein, sich in ein Tier verwandeln, mit Geistern sprechen oder gar fliegen zu können. Außerdem hieß es, die Alraune könne die Liebe und die Fruchtbarkeit fördern, ja man glaubte sogar, ein Sud aus Alraune könne einen Menschen in die Lage versetzten, sein Geschlecht zu wechseln! Außerdem sollte die sonderbare Wurzel Glück bringen und vor Schaden schützen. Und so gab mancher Mensch ein wahres Vermögen dafür aus, um in den Besitz eines Alraunenmännleins oder – weibleins zu gelangen. Daher verwundert es nicht, dass mit Alraunen ein reger Handel getrieben wurde und bald auch jede Menge gefälschte Wurzeln in Umlauf gelangten. Noch heute kann man in Wien zwei in Samtkleider gehüllte unechte Alraunen bestaunen, die Kaiser Rudolf II. in seinem Besitz hatte. Selbst zu Goethes Zeiten war der Glaube an die Macht der Alraune noch nicht ganz erloschen und so gehörte auch dem Dichterfürst eine „Alraune oder Glückswurzel, in den Saum des Unterrocks zu nähen, als Mittel für alles Ungemach“!