Man kann nicht über die Pflanzen im christlichen Mittelalter sprechen, ohne auf Walahfrid Strabo einzugehen, der das Pflanzenbild der Menschen dieser Zeit auf ganz besondere Weise geprägt hat und noch bis heute prägt. Geboren wurde Walahfrid Strabo um 810 im Bodenseeraum. Bereits als kleiner Junge kommt er in die Schule des Klosters auf der Bodenseeinsel Reichenau und tritt als 15Jähriger dem dortigen Benediktinerkonvent bei. Sein Name „Strabo“, der Schieler, deutet darauf hin, dass er ein Augenleiden hatte. Doch das hindert ihn nicht daran, bei seinen Lieblingen, den Pflanzen, ganz genau hinzuschauen. Nach Stationen im Kloster Fulda und am Aachener Kaiserhof wird er zum Abt des Klosters Reichenau berufen. Hier entsteht auch das bereits erwähnte Lehrgedicht „Über die Gartenpflege“, „De cultura hortorum“, kurz „Hortulus“ (Gärtlein) genannt. Dieses Gedicht ist im Grunde die erste Kunde über den Gartenbau, die wir auf deutschem Boden haben und eines der wichtigsten botanischen Werke des frühen Mittelalters. In 444 Versen werden 24 Heilkräuter, Küchen- und Zierpflanzen beschrieben, die noch heute die Gärten bereichern. Es sind die gleichen Pflanzen, die schon in der Landverordnung Karls des Großen zu finden waren. Das Besondere an dem Gedicht ist, dass es weit mehr als nur eine gelehrte Zusammenfassung des Wissens darstellt, das Strabo von einer bestimmten Pflanze hatte. Aus jeder Pflanzenbeschreibung strahlt auch die Zuneigung, die der Verfasser zu seinen Pflanzen hegt. Walahfrid sieht die Pflanzen nicht nur als nützlich oder schön. Er bewundert sie, weil sie für ihn ein sichtbarer Beweis von Gottes Schöpfung sind.
Da heißt es zum Beispiel über den Fenchel: „Auch die Ehre des Fenchels sei hier nicht verschwiegen; er hebt sich kräftig im Spross, und er strecket zur Seite die Arme der Zweige, ziemlich süß von Geschmack und süßen Geruches desgleichen. Nützen soll er den Augen, wenn Schatten sie trügend befallen, und sein Same mit Milch einer Mutterziege getrunken, lockre, so sagt man, die Blähung des Magens und fördere lösend alsbald den zaudernden Gang der lange verstopften Verdauung. Ferner vertreibt die Wurzel des Fenchels, vermischt mit dem Weine […] und so genossen, den keuchenden Husten.“
In seinem Gedicht zeigt sich Walahfried überaus praktisch veranlagt: Er erklärt beispielsweise, wie wichtig es ist, immer einen genügend großen Vorrat an Heilkräutern zu besitzen, um deren Wirkung er natürlich weiß. Aber der Abt kennt auch die praktische Gartenarbeit und ihre Schwierigkeiten. So hat sich etwa nach dem Winter im Klostergarten Unkraut gebildet: „Dann haben Nesseln den Raum überwuchert, der vor meiner Türe östlich zur Sonne sich wendet …, und auf den Flächen des Feldchens ist übles Unkraut gewachsen, Pfeilen vergleichbar, verderblich bestrichen mit ätzendem Gifte … Ungesäumt greife ich an mit dem Karst […) ruhende Schollen, breche das leblos starrende Erdreich auf und zerreiße die Schlingen der regellos wuchernden Nesseln. Und ich vernichte die Gänge, bewohnt von dem lichtscheuen Maulwurf, Regenwürmer dabei ans Licht des Tages befördernd.“
Zum Schluss schreibt der Mönch über Rose und Lilie: „Denn diese beiden Blumen, berühmt und gepriesen, sind Sinnbild seit Jahrhunderten schon der höchsten Ehren der Kirche, […]. Pflücke Rosen im Streite und brich frohe Lilien im Frieden. Aus dem Königsstamm Jesse ist dir eine Blüte entsprossen, Retter und Bürge allein des erneuerten alten Geschlechtes“. Und damit bleibt Walahfried trotz aller Gartenpraxis ganz im christlichen Glauben des Mittelalters verwurzelt. Für ihn sind seine Pflanzen des „Hortulus“ vor allem eines – Sinnbild der Liebe, die Gott den Menschen zuteilwerden lässt! Anfang der 1990er Jahre wurde dieser Kräutergarten wieder nach Walahfrids Muster im ehemaligen Klostergarten auf der Reichenau neu angelegt. Und er gibt uns ein anschauliches Beispiel dafür, dass die Gartenkultur des Mittelalters ihren Zauber bis heute nicht verloren hat.