Dass Pflanzen Zauberkräfte haben könnten, ist für uns heutige Menschen kaum noch vorstellbar. Doch während der meisten Zeit unserer Geschichte haben die Menschen versucht, mit Hilfe von Pflanzen und Kräutern Götter gnädig zu stimmen, das Wetter zu verändern oder Liebestränke zu brauen. Damit Zauberpflanzen wie Bilsenkraut, Misteln oder die Pfingstrose jedoch überhaupt „wirken“ konnten, musste man sie zuvor regelrecht „aktivieren“. Denn ohne die Verwendung von Zaubersprüchen oder bestimmten Ritualen war selbst die mächtigste Zauberpflanze unwirksam, so waren die Menschen überzeugt. Zudem mussten die Pflanzen an bestimmten Orten, zum Beispiel unter Galgen und auf Friedhöfen geerntet werden. Auch die Anzahl der zu erntenden Pflanzen war genau festgelegt. In der Regel waren es ungerade Zahlen wie etwa 3, 7, 9, 77 oder 99. Auch war es wichtig, dass der Erntende seine Schätze „unbeschrieen“ pflückte, also ohne dass er von jemandem gesehen wurde. Manche Pflanzen konnten ihre Zauberkraft nur entfalten, wenn sie der Zauberkundige an bestimmten Tagen des Jahres, zu bestimmten Tageszeiten, bei Voll- oder Neumond pflückte. Wenn man beim Erntevorgang zusätzlich noch den Namen der Gottheit anrief, der die Pflanze geweiht war, sowie den Namen der Person, für die man sie sammelte, sollte dies die magische Kraft des Zaubergewächses noch zusätzlich stärken. Und manches Mal endete die Verehrung einer Pflanze und des ihr zugeordneten Gottes in ausschweifenden Ritualen. Man denke nur an die üppigen Weinfeste zu Ehren des Gottes Dionysos, des Gottes des Rausches, des Weins und der Trauben. In unseren heutigen feucht-fröhlichen Weinfesten im Herbst ist noch ein klein wenig von diesem alten Brauchtum erhalten geblieben!
Bei manchen Sammelritualen musste derjenige, der die Pflanzen ernten wollte, dies nackt tun, also frei von allem, was möglicherweise unrein sein könnte. Eine Schere zum Ernten zu benutzen, war übrigens undenkbar. Man musste ein Messer oder eine Sichel verwenden oder die Pflanzenstängel mit der linken Hand pflücken. Wurzeln wie etwa die Alraune (Mandragora officinarum) durfte man auf keinen Fall selbst und mit bloßen Händen ausgraben. Denn es war der Glaube weit verbreitet, dass die Alraune beim Herausziehen ihrer Wurzel einen Schrei von sich geben würde, durch den Menschen sofort sterben müssten. Um dies zu verhindern, band man bei der Ernte der Pflanze einen Hund mit einem Seil an ihrer Wurzel fest. Die Person, die die Alraune ernten wollte, verstopfte sich nun die Ohren mit Wachs und rief anschließend den Hund zu sich, der so die Wurzel aus der Erde zog. Der Schrei, der dabei angeblich ertönte, tötete so den Hund
anstelle des Menschen. Was für eine grausame Legende, nicht wahr?
Oh, große Kräfte sind´s;
weiß man sie recht zu pflegen;
die Pflanzen, Kräuter, Stein
in ihrem Innern hegen.
(William Shakespeare, Romeo und Julia)