Momijigari – auf der Jagd nach den roten Blättern

In diesen Wochen verfolgt man in Japan besonders genau die Nachrichten, doch nicht etwa aus politischen Gründen, sondern auf der Jagd nach der schönsten Herbstfärbung der Bäume, die sich wie eine große rote Welle von der Hauptinsel Hokkaido im Norden langsam in den Süden Japans ergießt. Nicht weniger als ihre Kirschblüte im Frühjahr lieben die Japaner ihr rotes Herbstlaub. Nach der Taifunsaison im Spätsommer freut man sich im Land auf angenehme Tage im Herbst, wo die Natur vor dem bevorstehenden Winter noch einmal alles aufbietet, was der Farbkasten der Natur hergibt. Viele Familien machen sich nun auf zur „Roten-Blätter-Jagd“ (Momijigari 紅葉狩り) in Parks und Wäldern und veranstalten unter dem leuchtend roten Laubdach ihr Picknick. Der Ahorn in Japan taucht sich im Herbst in besonders intensives Rot – viel intensiver, als man es beim deutschen Herbstlaub gewöhnt ist. Denn während bei uns nur drei Ahorn-Arten heimisch sind, kennt man in Japan mehr als zwanzig verschiedene Vertreter der Gattung Acer, zudem ist die Bewaldung in dem asiatischen Land deutlich vielfältiger als bei uns und entsprechend auch die Herbstfärbung.

Dass die Japaner der intensiven Laubfärbung eine hohe Wertschätzung entgegenbringen, liegt in ihrer Kultur begründet, wo die Jahreszeiten traditionell eine große Rolle spielen – insbesondere in der Kunst und der traditionellen Dichtung des Landes. Unter dem Begriff Kigo (季語) versteht man in Japan so genannte „Jahreszeitenwörter“, die einen unmittelbaren Bezug zur jeweiligen Jahreszeit haben und mit dafür typischen Assoziationen verknüpft sind. So kommt das rote Laub sehr häufig in der Haiku-Dichtung vor, bei der jedes Gedicht nur eine genau festgelegte Zahl von Silben haben darf. Schon in der ältesten Gedichtsammlung Japans aus der Mitte des 8. Jahrhunderts ist das bunte Herbstlaub von zentraler Bedeutung.

Bereits in der Heian-Zeit (794-1185) war es am Kaiserhof in Kyōto üblich, im Rahmen von Momijigari-Herbstspaziergängen Orte mit besonders schöner Laubfärbung aufzusuchen. Auf diesen Spaziergängen gedachte man – wie auch im Frühjahr zur Zeit der Kirschblüte – des raschen Wandels in der Natur und der Vergänglichkeit alles Irdischen. Was den Adel erfreute, fand später auch außerhalb der Palastmauern Anklang und seit der Edo-Zeit (1603-1868) ist der Herbstspaziergang fest im Leben der Japaner verankert. Fast jede japanische Region hat dabei ihre eigenen Momijigari-Hotspots – darunter Kyōto, Nikkō (in Tochigi) oder die Gegend um den Gebirgsbach Oirasei Keiryu in der Präfektur Aomori. Nahe Osaka gibt es den Minoh Na-tionalpark, dessen Wasserfall als stimmungsvoller Hintergrund für wunderschöne Momiji-Fotos dient. Aber auch in Deutschland kann man sich auf die Jagd nach den roten Blättern machen, denn so mancher botanische Garten bietet spezielle Momijigari-Führungen an, um die Farbenpracht seiner japanischen Ahorne zu zeigen.

Foto: Herbststimmung am Kawaguchiko-See mit dem Fujiyama im Hintergrund. Quelle: Wikimedia Commons, Moyan Brenn