Wie das Gebet in die Nuss kam

Zu Beginn des 16. Jahrhunderts entstand dank der Entwicklung des Handels in Europa und der Entstehung der Kaufmannsklasse eine neue Nachfrage: die nach Andachtsgegenständen, die leicht zu transportieren waren, damit die Gläubigen überall beten konnten. In der Folge entstanden so genannte Betnüsse: Dabei handelt es sich um nuss- oder schotenförmige Kapseln, die als Anhänger an Rosenkränzen oder Schmuckketten getragen wurden. Die Betnüsse maßen höchstens sechs Zentimeter im Durchmesser und wurden ursprünglich aus Buchsbaumholz hergestellt, später auch aus Elfenbein, Metall und anderen Materialien. Die ältesten noch vorhandenen Exemplare sind oft mit ornamentalen Mustern verziert, wie wir sie von gotischen Kirchenfenstern kennen. Manche Betnuss ist auch abgeflacht wie bei einem Medaillon. Das eigentliche Wunder zeigt sich, wenn man eine Betnuss aufklappt, denn sie besteht aus zwei Hälften, die durch ein haarfeines Scharnier miteinander verbunden sind. Darin sind dann zum Beispiel winzige Heiligenfiguren zu sehen oder biblische Szenen aus dem Alten und dem Neuen Testament. Häufig findet sich darin die Passion Christi oder ganze Szenen aus dem Neuen Testament oder dem Leben eines Heiligen.

Oftmals gibt es in beiden Nusshälften Parallelszenen wie etwa die Anbetung der Hirten und die Anbetung der Heiligen Drei Könige. Sogar mit winzigen Inschriften sind diese kleinen Schnitzereien versehen. Damit nicht genug: Um noch mehr Bildfläche in der winzigen „Nuss“ zu erhalten, hat manche sogar noch ausklappbare Flügel wie bei einem Flügelaltar. Es gibt sogar Sonderformen, die wie ein Totenkopf gestaltet sind. Auch gibt es eine Betnuss, die kleine hölzerne „Erbsen“ beinhaltet, auf denen winzige Reliefs mit biblischen Motiven zu sehen sind. Leisten konnten sich solche Wunderwerke nur reiche Gläubige, die diese Betnüsse bestellten, um eine Art Andachtshilfe bei ihren Gebeten zu haben. Besonders aufwändige Betnüsse wurden zudem mit einer glänzenden Metalleinfassung versehen. Die meisten Betnüsse entstanden zwischen 1490 und 1530, als es eine Hinwendung zum häufigeren Rosenkranzgebet gab. Man kann sich vorstellen, wie schwierig es gewesen sein muss, solche Nüsse herzustellen. Heute versuchen Wissenschaftler, diesem Rätsel mit Hilfe von Mikroskopen und 3D-Röntgenaufnahmen auf die Spur zu kommen. Und doch hat man es noch nicht geschafft, alle Rätsel des Herstellungsprozesses zu entschlüsseln. Und vielleicht weil es so schwierig war, solche Kostbarkeiten anzufertigen, wurden nur wenige Betnüsse hergestellt.

Weltweit haben sich bis in die Gegenwart etwa 135 Betnüsse erhalten. Eine der berühmtesten Betnüsse ist die der Maria von Burgund, der Ehefrau des Kaisers Maximilian I von Habsburg. Auf der unteren Hälfte der „Nuss“ sieht man den Evangelisten Johannes mit dem Kelch, die heilige Katharina mit dem Schwert und die heilige Barbara. In der oberen Hälfte der Betnuss sind Maria von Burgund selbst, ihr Ehemann und der heilige Georg zu erblicken, der der Haus- und Hofheilige des Hauses Habsburg war. Über die wunderbare Schnitzkunst hinaus hielt so manche Betnuss noch eine weitere Überraschung bereit: Sie besaß eine Art Aussparung für wohlriechende Substanzen, sodass die kleine Gebetshilfe nicht nur wunderschöne religiöse Szenen zeigte, sondern außerdem noch einen wunderbaren Duft verströmte – ganz so wie ein winzig kleines Potpourri. Eine solche Betnuss war ein wahres Raumwunder, als Andachtsobjekt ein Zeichen von Frömmigkeit und ein besonderer Luxusgegenstand, zu dem es kaum Vergleichbares gibt.