Die Kastanie der 100 Pferde

Am Hange des sizilianischen Vulkanes Ätna wächst seit undenklichen Zeiten der „Castagno dei cento Cavalli“ oder „Kastanienbaum der hundert Pferde“. Und von undenklichen Zeiten darf man getrost reden, haben doch Botaniker für diesen Baum ein Alter zwischen 2.000 und 4.000 Jahren errechnet. Er dürfte damit also zu den ältesten Bäumen unseres Kontinents zählen. Zu den dicksten auch, denn schon anno 1636 schrieb der italienische Schriftsteller und Priester Don Pietro Carrera von einem „Baum mit imposantem Stamm, groß genug, um dreißig Pferde in seinem Inneren zu beherbergen“. Mitten im Baum soll sich damals sogar eine Hütte befunden haben! Er war bereits zu dieser Zeit eine echte Berühmtheit, sodass adelige junge Männer es sich auf ihrer „Grand Tour“ durch Europa nicht nehmen ließen, den Baum zu besichtigen oder gar, wie es der Maler Jean-Pierre Houël tat, ihn mitsamt der Hütte auf einer Leinwand zu verewigen. Eine schöne Legende erzählt, dass eine Königin auf der Jagd plötzlich von einem heftigen Gewitter heimgesucht wurde. Mitsamt ihrem hundertköpfigen Gefolge von Reitern (daher der Name der Kastanie!) fand sie unter dem riesigen Baum Schutz, während das Unwetter noch bis zum Abend weiter tobte – ein Liebhaber soll bei dieser ungeplanten Rast der Königin, deren Namen die Legende dezent verschweigt, die Zeit überaus angenehm vertrieben haben.

Heute ist die Edelkastanie über 22 Meter hoch und hatte bei der letzten Messung einen Stamm­umfang von 22 Metern. Ob wohl göttliche Hände im Spiel waren, dass dieser Baum so alt werden konnte? Gut möglich, immerhin stand die Esskastanie schon in der Antike in höch­sten Ehren, war sie doch dem Höchsten aller Himmlischen, dem Göttervater Zeus ge­weiht. In späteren Zeiten schätzte man die Castanea sativa, die im Jahr 2018 der Baum des Jahres war, insbesondere wegen ihrer Heilwirkung. So wusste die heilkundige Nonne Hildegard von Bingen schon im 12. Jahrhundert zu berichten, dass die Blätter und Schalen des Baumes, mit Wasser als Dampfbad angewendet, gegen Gicht und je nach Zubereitungsart gegen Kopf-, Leber-, Milz- und Magenschmerzen helfen. Im Christentum hat die Kastanie ihren festen Platz in der Pflanzensymbolik. Mit ihrer stacheligen Schale, die das kostbare Innere birgt, war sie zum einen ein Symbol der Keuschheit und der unbefleckten Empfängnis Marias. Und wie die Schale die Frucht behüte, so schütze der Glaube an Jesus den Men­schen. Zum anderen galt der Baum als Symbol der Auferstehung, was nicht weiter verwundert, wenn man bedenkt, dass Kastanienbäume sogar nach einem starken Rückschnitt immer wieder kräftig neu austreiben.

Selbst in den großen Schatz der Redensarten hat die Kastanie Eingang gefunden. So holt man beispielsweise für eine andere Person „die Kastanien aus dem Feuer“, wenn man ein Wagnis für sie eingeht. Dichterfürst Goethe hat der Esskastanie ein herrliches Gedicht gewidmet. Und auf den erlesenen Stillleben des Frankfurter Malers Georg Flegel nimmt die Frucht der Edelkastanie gern einen prominenten Platz ein.

Ob ihr botanischer Name Castanea sich von dem alten thessalischen Ort Kastanea herleitet, lässt sich nicht mit letzter Bestimmtheit sagen. Auch das althochdeutsche Wort „chestinna“ sowie das mittelhochdeutsche „kestene“, was früher so viel wie „Frucht“ bedeutete, könnten sprachwissenschaftlich für den Namen Pate gestanden haben. Der Pfälzer sagt übrigens heute noch „Keschde“ zu den glänzend braunen Früchten. Und so wundert es nicht, dass das Wort Marone sich aus dem Italienischen und Französischen herleitet, wo „marrone“ bzw. „marron“ die Farbe Braun bezeichnen. Noch heute ist die Marone, (nicht nur) auf dem Weihnachts­markt heiß genossen, eine ebenso beliebte wie gesunde Leckerei!